Foto 1: Hans-Jürgen Becker mit seiner Enkelin Lorelai.
Heute ist es verhältnismäßig einfach, nach Kalifornien zu reisen. In 1943 wäre das jedoch undenkbar gewesen. Ich war 2 Jahre alt, als meine Mutter mit mir das von Bomben zerstörte Kassel verlassen musste. Wohin sollten wir gehen? Meine Mutter entschied sich für Konnefeld, die Heimat meiner Großväter und nun wurde es auch für die nächsten 11 Jahre unsere Heimat. Wenn ich heute meine kleine Enkelin auf den Armen trage (Foto 1), werden meine Kindheitserinnerungen wieder sehr deutlich und ich frage mich, an was sie sich wohl erinnern wird, wenn sie in meinem heutigen Alter ist.
1943 war Krieg. Mein Vater war in russischer Gefangenschaft und wurde erst 5 Jahre später entlassen. Ich war zu klein, um die Sorgen und Nöte meiner Mutter zu verstehen. Für mich war Konnefeld ein großer Spielplatz, hier fühlte ich mich wohl. Egal, ob es regnete, schneite oder die Sonne schien, immer waren wir Jungs und Mädchen draußen und es gab immer etwas zu erleben und immer wieder fiel uns etwas Neues ein. Wir spielten Suchen und Verstecken ( 1,2,3,4 Eckstein – alles muss versteckt sein) auf den Höfen und Scheunen, in Ställen und den Gärten. Wir jagten uns als Räuber und Gendarm, wir spielten Fußball mit selbstgefertigten Bällen, hüpften in den Hickelhäuschen bis zum Himmel oder die Hölle, ließen Holzrinde als Schiffchen in den Pfützen schwimmen und fanden alles toll, was besonders matschig war.
Meine Mutter fand es aber gar nicht so toll, wenn ich abends schmutzig nach Hause kam. Das Wäschewaschen war nicht so einfach und leicht wie heute, aber es gab die gute Kern- seife, mit der alles, aber auch wirklich alles geschrubbt wurde. Und ganz besonders am Samstag. Samstag war Waschtag für die ganze Familie und die Zinkwanne wartete schon in der Küche. Die Küche war überhaupt der Mittelpunkt des Familienlebens. Wir hatten nur eine Küche und ein gemeinsames Schlafzimmer, aber viele andere hatten auch noch eine ‚Gute Stube’, die aller- dings nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Es war einfach zu kostspielig, neben der Küche auch die anderen Räume noch zu beheizen. So war also im Grunde genommen der Herd der Mittelpunkt des Hauses.
Kapitel II
In der ersten Zeit hatten wir zum Heizen nur Holz, später kam Kohle hinzu und wer sich Briketts erlauben konnte, war schon etwas ‚Besonderes’. In großen Töpfen wurde also am Samstag das Wasser heiß gemacht und dann in die Wanne geschüttet. Zuerst testete man mit den Füßen, ob die Temperatur stimmte und dann nahm Mutter den Waschlappen und die Kernseife und wusch alles gnadenlos ab. Viel lieber als diese gehasste Zeremonie liebte ich das Wasser der Fulda. Schon als kleiner Junge zog es mich dort hin und ich stand auf der Brücke und schaute durch die Holzlatten in das fließende Wasser – und im Winter konnte ich nie begreifen, warum es plötzlich keine Brücke mehr gab, denn die wurde im Herbst wegen des erwarteten Hochwassers, das alles mit sich riss, abgebaut und im Frühjahr wieder aufgebaut.
Die Sommer waren wirklich noch so, wie man sich einen Sommer vorstellt. Ich lernte früh schwimmen und wir verbrachten die ganzen Tage auf der anderen Seite der Fulda, dicht an und unter der Brücke. Wir spielten in dem kleinen kieseligen ‚Strand’ oder hingen und spielten an den Brückenpfählen oder warfen uns in die Strömung der Durchfahrt – so wurde die Stelle unter der Brücke mit der tiefsten Stelle und größten Strömung genannt.
Die Spiele im Freien wurden mit dem Älterwerden immer anspruchsvoller und es entwickelten sich kleine Wettkämpfe zwischen den Freunden. Ein bevorzugtes Spiel war Kibbel-Kabbel Ein kleines Stück Holz wurde an beiden Seiten angespitzt und mit einem weiteren Holzstock wurde auf eines der Enden geschlagen, damit es dann in der Luft noch einmal getroffen, möglichst weit flog. Und dann mein Lieblingsspiel: das Klickern mit Murmeln. Meine Mutter hat mir ein kleines Säckchen genäht, dass ich stolz an der Hose trug. Dort drin versteckt waren die farbigen Ton- und ganz selten, der größte Schatz überhaupt, einige wenige Glaskugeln. Mit dem gekrümmten Zeigefinger musste man die Kugeln in ein Loch bugsieren und wer es als erster schaffte, gewann die Kugeln des Gegners. Wir spielten Schlagball oder Brennball und sammelten Zigarettenschachteln und schnitten das Deckblatt so aus, dass es wie eine Spielkarte aussah. Nun hatten wir unser erstes Quartett. Over- stolz, Astor, Eckstein, Juno oder Gelbe Sorte.
Hans-Jürgen Becker Fresno/Kalifornien (USA) 2. November 2008